Interview mit Sportosteopath Dennis Jacobs
Klingt scharf, fühlt sich auch so an: das Schienbeinkantensyndrom, auch „Shin Splints“ genannt. Der brennende Schmerz an den Schienbeinen hemmt so manche/n von uns, Vollgas in der Red Zone zu geben. Sogar Profi-Athleten leiden darunter. Sportosteopath Dennis Jacobs hat schon einige Amateur- und Profisportler deswegen in Behandlung gehabt und sagt, er habe „noch nie einen Shin Splint erlebt, der sich nicht heilen ließ.“ Wie entsteht das Schienbeinkantensyndrom und welchen Ansatz verfolgt die Sportosteopathie bei der Anamnese und Heilung? Grab those expert hacks!
Dennis, du hast viele Jahre leistungsorientiert Fußball gespielt. Hattest du jemals Shin Splints?
Nein, Shin Splints hatte ich tatsächlich nie. Aber in meiner Laufbahn als Osteopath habe ich einige Amateur- und Profisportler deswegen in Behandlung gehabt. Bis jetzt konnte ich alle kurieren.
Das ist beruhigend, zu hören.
Tatsächlich haben viele Sportler damit ein Thema. Nehmen wir Feldhockey-Spieler. Da gibt es zwei verschiedene Meisterschaften im Jahr: einmal in der Halle, einmal draußen auf Kunstrasen. Und immer kurz nach dem Wechsel klopfen einige bei mir an, weil die Schienbeine brennen.
Warum ist das so?
Zum einen wechselt der Belag und mit ihm auch das Schuhwerk: vom Hallen- zum Kunstrasenschuh. Das beeinflusst das Sprunggelenk stark. Zum anderen verändern sich die Bewegungsabläufe: In der Halle spielt man insgesamt tiefer gebeugt und schneller. Über das tiefe “Brett” kriegt man insgesamt mehr Zug aufs System und auf die hintere funktionelle Kette. Das kann Schien- und Sprungbeine reizen.
„Mehr Zug aufs System“
Richtig. Als Osteopath untersuche und behandle ich das Problem- und Schmerzgebiet natürlich direkt, betrachte aber auch das gesamte System und dessen Einfluss auf den lokalen Schmerz.
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Worauf richtet die Osteopathie ihren Fokus?
Sie richtet ihn auf drei Ebenen: aufs parietale System, sprich: Muskeln, Sehnen, Faszien, Bänder, Knochen und Gelenke. Auf das viszerale System – also die inneren Organe mit den zusammenhängenden Blut- und Lymphgefäßen. Und zuletzt auf das Cranio-Sakrale System. Dazu gehören das Nervensystem, die Hirn-und Rückenmarkshäute und deren Flüssigkeiten. Die Philosophie der Osteopathie besagt, dass erst Freiheit und Mobilität im ganzen System herrschen müssen, damit ein Problem nachhaltig behoben werden kann.
Es können also auch innere Organe eine Rolle beim Schienbeinkantensyndrom spielen?
Ja, der funktionelle Schmerz an den Schienbeinkanten kann sich über kettenartige Verbindungen im Körper aufbauen. Die inneren Organe und ihre Konstellation haben einen großen Einfluss auf den Bewegungsapparat. Sie können durch verschiedenste innere und äußere Einflüsse im Laufe eines Lebens verkleben, gestaut sein, sich verfestigen und vieles mehr. Eine Infektionskrankheit wie Pfeiffrisches Drüsenfieber beispielsweise belastet Leber- und Milz stark und hat große Auswirkungen auf den Bewegungsapparat. Oder eine Verklebung des Dickdarms durch ständiges Sitzen bei der Arbeit. Meine Erfahrung zeigt, dass es da nicht ausreicht, nur lokal am Bewegungsapparat zu arbeiten. Es müssen alle genannten Ebenen miteinbezogen werden. Das ist das Alleinstellungsmerkmal und gleichzeitig das Erfolgsrezept der Osteopathie.
Wie macht sich denn das Schienbeinkantensyndrom bemerkbar und was passiert dort genau?
Shin Splints sind für mich eine Stauung, eine Abflussstörung, verklebte Faszien oder verformtes Bindegewebe – häufig gepaart mit Blockaden im Sprunggelenk und Knie. Was den Schmerz auslösen könnte, sind kleine Lymphansammlungen auf Mikroebene, sogenannte Ödeme in kleinsten Funktionseinheiten. Diese drücken auf Blutgefäße und Nerven, was die Knochenhaut und das umliegende Fasziengewebe reizt. So beginnen Shin Splints meiner Meinung nach – ein diffuser an der Schienbeinkante entlang ziehender Schmerz, innen, außen oder auch am Wadenbein.
Wie gehst du bei der Anamnese vor?
Ich versuche, mir zunächst einen Eindruck zu verschaffen und zu verstehen, woher die Schmerzen rühren, wann sie das erste Mal aufgetaucht sind, in welchem Zusammenhang, ob es Phasen gibt, in denen es besser geht. Denn im Grunde ist es egal, ob du wegen Patellaspitzensyndrom, Fersensporn oder Shin Splints zu mir kommst: Am Ende ist es immer das Zusammenspiel von all deinen Strukturen und Bewegungsabläufen, deiner individuellen Krankheitsgeschichte, was bei dir den temporär schwächsten Punkt zum Glühen bringt. Deswegen klopfe ich unterschiedliche Themen ab:
Hattest du in der Vergangenheit Brüche, Zerrungen, Unfälle oder Operationen? Hattest du mal eine außergewöhnliche Infektion wie Malaria? Bist du „Grinder“, knischt also mit den Zähnen? Neigst du zu Kopfschmerzen oder Migräne? Hattest du mal Tinnitus? Bei Patientinnen spielt es eine wichtige Rolle, ob der Zyklus problemlos funktioniert und auch, ob sie eine Spirale tragen. Das lässt viele Rückschlüsse zu. Eine Spirale beispielsweise hat über fasziale Verbindungen der Gebärmutter einen direkt mechanischen Einfluss auf das Becken, die Iliosakralgelenke, Schambeine und deren Statik.
Okay. Was folgt als nächstes?
Global Listening: Ich fühle bei dieser Befundtechnik, ob der Körper eher einen Zug nach vorne andeutet, mittig schwankt oder nach hinten zieht. Der Zug nach vorne zeigt: Es ist viel viszeral, also im Bauchraum, los. Der mittige Ausschlag deutet aufs Nervensystem hin und die Tendenz nach hinten zeigt ein Problem im Bewegungsapparat auf.
Wie baust du die Behandlung auf?
Zunächst mobilisiere ich die einzelnen Organe gegeneinander, und löse diese beispielsweise vom Iliopsoas, einem Hüftbeugemuskel. Ziel ist, dass das Gewebe auf den Druck reagiert und die Spannung nachlässt. So kann ich zwischen die Faszie des Muskels zum darauf liegenden Organ gelangen, Verstauungen lösen und den Körper für den nächsten Schritt lockern:
Ich suche nach Blockaden und versuche, sie zu lösen. Dabei fange ich im Fußbereich an und löse Blockaden stückweise bis zur Halswirbelsäule auf. Sprunggelenke sind übrigens einer der Schlüssel bei Shin Splints. Oft bestehen dort Verdrehungen im Kapselbandapparat. Auch Knie und Wadenbeinköpfchen sind bei Shin Splints oft blockiert. Das kann aber alles gelöst werden. So entsteht wieder Platz. Die Strukturen können wieder geschmeidiger agieren und auch die Reizungen bei Shin Splints gehen zurück. Ich habe bis jetzt noch keinen Shin Splint erlebt, der sich nicht auf kurz oder lang wieder heilen ließ.
Abschließend hilft eine etwas schmerzhafte, aber sehr effektive Technik: Ich arbeite entlang der Schienbeinkanten, um entstandene Triggerbänder zu lösen und die Faszien wieder gleitfähiger zu machen. So bringe ich wieder Beweglichkeit rein und schaffe Platz dafür, dass Flüssigkeiten wieder abfließen und die Nerven wieder frei gleiten können. Dadurch kann das Schienbein wieder schmerzfrei werden.
Was sind einige Ursachen für Shin Splints?
Im Körper ist alles miteinander verwoben, überall zieht Bindegewebe in Knochen und Knochen ins Bindegewebe. Diese ineinander verwachsenen Züge sind dynamisch und je nachdem, wie wir sie belasten, zieht der eine mal stärker am anderen. Gerät dieser Bezug in ein Ungleichgewicht, spricht man zum Beispiel von einer Continuums-Distorsion. So eine kann bei Shin Splints durchaus vorliegen. Das kann ein kleiner Knochensporn sein, der am Sprunggelenk aus seiner Verankerung gezogen wurde. Den schiebe ich bei der Behandlung wieder zurück.
So etwas kann bei tiefen Squats mit Gewichten entstehen, bei schweren Sprüngen, bei Sportarten mit vielen Richtungswechseln. Immer, wenn du ruckartig startest oder stoppst, zieht es an den Strukturen. Bei Sprüngen übst du einen mechanischen Druck auf das Sprungbein aus. Dabei entstehen sogenannte „Scherkräfte“. Der Druck wirkt auf Gelenke, Nerven und die kleinen Blutgefäße. Gleitet das fasziale Gewebe gut, gibt es kein Problem. Wenn aber nicht, können die genannten Triggerbänder dafür verantwortlich sein.
Darf man trotz Shin Splints weiter trainieren?
Ja, ich empfehle es auch, rate aber dazu, die Bewegungen zu diversifizieren und nicht unbedingt in den Schmerz hinein zu trainieren. Ein Leistungssportler kann sich keine 6 Wochen Pause erlauben, dann ist das Turnier im Zweifel vorbei. Besser ist, dem Körper andere Trainingsreize zu geben. So gibt man ihm die Chance, sich selbst aus den Blockaden und Dysfunktion zu lösen. Rotationsübungen der Wirbelsäule tun sehr gut, Stretching, Mobility, Yoga und Pilates. Oder mal Schwimmen und Klettern gehen.
Welche Rolle spielen Gangbild oder Laufstil: Hat unsere Art, zu gehen oder zu laufen, einen Einfluss?
Das schließe ich nicht aus. Wir sprachen bereits vom Ungleichgewicht, der Continuums-Distorsion: Wenn du unterbewusst beim Gehen oder Laufen unsauber abrollst, wirkt sich das aufs Kniegelenk und aufs Wadenbeinköpfchen aus: Du bist dann in einer Kompensation. Zunächst hindert dich nichts daran, weiter dein Training zu machen, denn das spürst du im Zweifel nicht. Es werden aber einige Strukturen mehr belastet, als andere. Durch das Ungleichgewicht entsteht längerfristig Druck. Hier zielt dann eine osteopathische Behandlung darauf ab, die Mobilität in Fuß, Knie und Hüfte wiederherzustellen. Beim Abrollen kannst du dann etwas freier in die Dorsalextension gehen – damit ist das Fußheben und -strecken gemeint – sodass der Fuß besser durchblutet wird. Das sorgt auch für verbesserte Drainage aller Flüssigkeiten im Bein.
Wozu rätst du nach einer osteopathischen Behandlung?
Ich resete bei einer Sitzung den gesamten Körper und setze teilweise bewusst Mikro-Traumata. Der Körper kümmert sich im Anschluss darum und arbeitet sie praktisch ab. Damit das Gewebe nach einer Behandlung nicht in den gewohnten Habitus zurückfällt, mach‘ Stretching, Mobility, Yoga oder geh spazieren. Unterstütze deinen Körper, indem du ausreichend Wasser trinkst. Tabu sind nach der Behandlung schwere Gewichte und Sprünge. Trainierst du die Tage darauf, achte auf fließende Bewegungen, vermeide abrupte Richtungswechsel, schnelle Start-Stopp-Bewegungen, Sets, bei denen der Fuß fixiert ist und der Oberkörper rotiert. Nach der Behandlung dauert es dann circa zwei bis drei Wochen bis der osteopathische Reiz sich endgültig entfaltet hat. Dann kann man schauen, wie es weitergeht.
Was würdest du allen Trainierenden gern abschließend empfehlen?
Es ist natürlich gut, sich ein stabiles, muskuläres Gerüst anzutrainieren. Aber Stabilität bedeutet nicht automatisch Schmerzfreiheit. Ich würde immer Mobilität vor Stabilität setzen. Wenn du flexibel und gut beweglich bist und alle Strukturen frei gleiten können, dann kannst du ein gesundes Stabilitäts- und Krafttraining draufsetzen und wirst weniger Beschwerden im Bewegungsapparat bekommen, wie zum Beispiel Shin Splints.
Vielen Dank für das Interview, Dennis!
Dennis betreut als Sportosteopath unter anderem die Deutsche Hockeynationalmannschaft. Er hat selbst viele Jahre auf Landes- und Verbandsliga-Niveau Fußball gespielt und zählt insgesamt neun Bänderrisse. Auch von Operationen kann er ein Liedchen singen. Heute spielt er immer noch Fussi. Manchmal mit Manschette. Mit dem Wissen von heute wären ihm einige Verletzungen erspart geblieben, sagt er. Deswegen ist es ihm umso wichtiger, sein Wissen zu teilen.